L for Liberty

…because liberty is not negotiable.

Mir gi Lëtzebuerg net op!

Als politisch interessierter Bürger und erneuter Kandidat bei den Gemeindewahlen im Juni in Esch-sur-Alzette habe ich es mir nicht nehmen lassen, das umstrittene Buch „Mir gi Lëtzebuerg net op!“ von Fred Keup und Tom Weidig zu lesen. Hier eine kleine Rezension.

Über weite Strecken beschreiben die beiden Autoren nur die historischen Veränderungen Luxemburgs. In Kapitel 1 wird zunächst in einem Schnelldurchlauf die Entwicklung zu einer „scheinbar perfekten kleinen Nation“ von der französischen Besatzungszeit (1795-1814) über den Wiener Kongress 1815, die Londoner Konferenz 1839 (die den meisten Historikern Luxemburgs allein schon aufgrund der Gründung Belgiens und den damit verbundenen neuen Grenzziehungen als die eigentliche Geburtsstunde der modernen Luxemburger Nation gilt, auch wenn die erste eigenständige Verfassung erst 1848 in Kraft trat), die Luxemburgkrise 1867 und die beiden Weltkriege hinein in meine Kindheit- und Jugendzeit beschrieben. Ein sehr lesenswertes Resümee.

1989 feierten wir bekanntlich 150 Jahre Unabhängigkeit, 1990 100 Jahre Dynastie Nassau-Weilburg. Diese Zeit, an die auch ich mich gerne zurück erinnere, wird vom gleichaltrigen Fred Keup und vom nur acht Jahre älteren Tom Weidig im Rückblick als der (idealisierte) Gipfel einer über 200 Jahre langen Entwicklung betrachtet. Die weiteren neun Kapitel beschreiben folgerichtig diverse Entwicklungen der letzten 30 Jahre in verschiedensten Bereichen, die die beiden Autoren und ADR-Politiker pejorativ als „Auflösungserscheinungen einer kleinen Nation“ betrachten.

Generell muß- allein schon der Fairness halber- festgehalten werden, dass die rein deskriptive Schilderung der Veränderungen nicht zu beanstanden ist, der ihnen gegebene politische Spin und die sich daraus ergebende Bewertung bietet jedoch allerhand Raum für interessante politische Auseinandersetzungen. So ist es beispielsweise richtig, dass die Rechte des Großherzogs im Zuge mehrerer Verfassungsreformen eingeschränkt wurden und über den Waringo-Rapport mehr Transparenz aka politische Kontrolle über die Finanzierung des Hofs geschaffen wurde. Nur kann man diese Entwicklung durchaus auch positiv sehen. Die Monarchie wird zeitgemäß umgestaltet und nicht „ausgehöhlt“. Von mir aus könnte Luxemburg sowieso morgen eine Republik werden. Ich hänge nicht annähernd so an der Monarchie wie die Konservativen. Es ist auch richtig, dass der Einfluss der katholischen Kirche hierzulande- wie in vielen anderen westlichen Ländern- massiv abgenommen hat, nur stört mich das als Atheist überhaupt nicht. Eigentlich wäre ich theoretisch sogar für eine komplette Trennung von Staat und Kirche wie in den USA oder Frankreich. Ebenfalls richtig ist, dass gerade die letzten zwei „Gambia“-Regierungen sich vom gemeinsamen öffentlichen Schulsystem für alle verabschiedet haben. Nur betrachte ich das eher positiv. Meines Erachtens müsste es noch viel mehr Bildungsfreiheit und weniger staatliche Bevormundung in diesem Bereich geben. Gerade auch beim Curriculum. Persönlich wäre ich zudem weder für Religions- noch für Werteunterricht (um an diese leidige Debatte vor ein paar Jahren zu erinnern), sondern für einen Philosophieunterricht, indem auch ethisch-moralische Fragen diskutiert und Religionen besprochen werden können.

Teilen tue ich jedoch die Sorge der Autoren vor (insbes. muslimischen) Parallelgesellschaften. Ein Blick in alle drei Nachbarländer offenbart diesbezüglich große Probleme. Integration ist das A und O einer funktionierenden multikulturellen Gesellschaft. Integration muss also bestmöglichst gewährleistet werden. Das ist zweifellos eine Aufgabe des Bildungssystems, aber auch der Zivilgesellschaft, allen voran Sport- und Kulturvereinen. Die Anerkennung der Bedeutung des Bildungssystems darf jedoch nicht zu dem Trugschluss führen, ein staatliches Zwangsmonopol oder -kartell der Freiheit des Wettbewerbs vorzuziehen. Der Gesetzgeber mag jedoch diverse Minimalforderungen an alle Anbieter stellen. Dies auch bezüglich des Erlernens der Luxemburger Sprache.

Wie den Autoren liegt auch mir viel an der laut UNESCO bedrohten Luxemburger Sprache und ich denke, es ist richtig, diese vielfältig zu fördern, zumal man bei aller politischen Correctness zugeben muss, dass das Beherrschen der Sprache eines Landes doch entscheidend für eine echte Integration ist. Zwar kann man auch ohne luxemburgisch sehr gut in Luxemburg leben, doch als „echter Luxemburger“ gilt halt doch nur wer luxemburgisch mündlich versteht und spricht (Schreiben ist hingegen nicht so wichtig.) Nun muss man in Zeiten der EU natürlich kein Luxemburger sein wollen, aber für den Erhalt der Staatsbürgerschaft sollte man schon ein ordentliches Verständnis der Sprache haben und man sollte dem Nachwuchs den Weg dahin von klein auf ermöglichen.

Generell ist die Sprachensituation in Luxemburg enorm vielfältig. Als lingua franca hat sich- schon allein durch die Gesetzesschreibung, aber auch durch die mehrheitlich frankophonen Grenzgänger und die mehrheitlich romanischsprachigen Einwanderer (aus Italien, Portugal) und deren Nachfahren- nach über Jahrzenten der Dominanz des Moselfränkischen massiv Französisch im Alltag durchgesetzt. Dies mag, nachdem im Zuge der Kriege auf dem Balkan auch vermehrt slawisch sprachende Menschen zu uns gekommen sind (jene bevorzugen dem Französischen eher deutsch oder sofort luxemburgisch), nicht zu sprechen von allerhand Expats aus zig anderen Ländern, in der Tat heute ein Nachteil sein und einem ein maltesisches Modell (mit englisch als gemeinsamer Sprache neben der eigentlichen Landessprache) sinnvoller erscheinen, nur halte ich dies allein aus juristisch-administrativen Gründen leider nicht für möglich. Ich denke, man sollte die Sprachenvielfalt als einen Trumpf Luxemburgs begreifen, der jedoch gigantische Herausforderungen mit sich bringt, allen voran der Erhalt der eigenen Muttersprache. Zwar ist es richtig, dass in absoluten Zahlen soviele Menschen wie noch nie in Kursen luxemburgisch lernen, aber prozentual auf die Bevölkerung gesehen, nimmt die Bedeutung der Sprache im Alltag ab. Dem sollte vernünftig entgegen gewirkt werden, allerdings ohne die persönliche oder wirtschaftliche Freiheit einzuschränken.

Apropos wirtschaftliche Freiheit: in Kapital 5 bemängeln die Autoren den „Fluch des unkontrollierten wirtschaftlichen Wachstums“. Hier muss ich die Frage stellen: wären euch weniger Wachstum, Nullwachstum oder sogar Schrumpfung lieber?
Wäre euch lieber, es werden Arbeitsplätze abgebaut statt neue geschaffen? Natürlich nicht, werden die Autoren anmerken, sondern dass es vor allem darum geht, das Bevölkerungswachstum zu stoppen, da es zur einer Explosion der Boden- und Immobilienpreise geführt hat sowie zu Problemen mit der Verkehrsinfrastruktur. Sie werden das Schneeball-Rentensystem kritisieren und auf Reformen Richtung Kapitaldeckung pochen. Bei diesem letztgenannten Punkt gibt es durchaus Berührungspunkte zu Liberalen (siehe Punkt zwei). Ansonsten wäre ich für einen konsequenten Ausbau der Telearbeit, gerade auch für Grenzgänger, wieso es neue steuerliche Abkommen mit den Nachbarländern braucht. Es ist durchaus möglich, auch durch Fortschritte bei der Digitalisierung, das Bevölkerungswachstum teilweise vom Wirtschaftswachstum zu entkoppeln, wobei mir allerdings die Vorstellung eines Großherzogtum Luxemburgs mit 1 Million Einwohnern weniger Sorge macht als den Autoren, zumal mein eigener Bruder in Hongkong lebt. Um die Wohnungsmarktpreise nicht total überhitzen zu lassen, braucht es zudem weniger Bürokratie. So müsste man bspw. mehr in die Höhe bauen (dürfen). Zudem muss der öffentliche Transport noch weiter ausgebaut werden (hier haben die letzten Regierungen durchaus manches schon in die Wege geleitet!) und auch endlich neue private Anbieter der Shared Economy wie Uber, Lime oder Bird zugelassen werden. Statt reflexartig von neuen Kontrollen wider eines angeblichen laissez-faire-Kapitalismus zu reden, sollte man erstmal analysieren wo es hingegen eher ein Mehr an Freiheit braucht um den Markt besser funktionieren zu lassen.

Gut gefällt mir die EU-Kritik der Autoren. Diese deckt sech weitestgehend mit der klassisch liberalen Analyse. Die EU muss aufpassen, nicht zu zentralistisch zu werden und alles in Brüssel und/oder Straßburg entscheiden zu wollen. In gewissen Bereichen sollte es eine bessere europäische Koordination geben (bspw. in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik, der Asylpolitik, des Wettbewerbsrechts und des freien Binnenmarktes), in anderen Bereichen jedoch sollte die Kompetenz bei den einzelnen Mitgliedsnationen, Regionen oder sogar Kommunen liegen. Die Entwicklung im Rahmen der sog. Eurorettung hin zu einer Transfer- und Schuldenunion habe ich von Beginn an kritisiert. Gedankenspiele über Steuer- und Sozialsysteme auf EU-Ebene sind mit Sorge zu betrachten.

Die meisten teils hochgradig emotionalen Angriffe auf das Werk werden meines Erachtens durch Kapitel 3 hervorgerufen. Hier beschreiben die Autoren die fallenden Geburtenraten Luxemburger Mütter bei gleichzeitiger massiver Immigration. Hierbei handelt es sich zunächst- wieder mal!- schlichtweg um statistische Fakten. Allerdings folgt daraus eben noch lange nicht, dass das Luxemburger Volk langfristig aussterben wird oder gar muß. Entscheidend ist halt, die Einwanderer und vor allem deren Nachkommen in Luxemburg erfolgreich zu integrieren und wenn möglich zu Luxemburgern zu machen. Wie das zu bewerkstelligen ist, darüber sollte parteiintern und parteiübergreifend trefflich diskutiert und debattiert werden ohne hysterisch wahlweise den Untergang des Abendlandes oder die Wiederkehr der Nazis herbeizureden. [Es gibt wahrlich genug am ADR zu kritisieren, gerade auch zurzeit bezüglich ihrer Position zum Krieg in der Ukraine, doch hilft eine Dämonsierung dieser Partei, ihrer Vertreter und ihrer Wähler niemandem].

Jede Nation braucht, schon allein um den sozialen Frieden zu erhalten, einen Grundkitt. Trotz aller sonstigen Differenzen muss sich das Volk als Einheit betrachten. Dieser Kitt muss unter Umständen auch, nein sogar gerade schlechtere Zeiten, überstehen. Allein deswegen reicht es nicht aus, allein auf materiellen Wohlstand zu vertrauen, der zudem auch in Westeuropa längst aus diversen Gründen massiv bedroht ist. Der Wunsch nach nationalen Narrativen (um ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu erzeugen) ist also verständlich. Nur muss man ein Narrativ schaffen, dass alle Menschen, auch jene mit Migrationshintergrund, mitnimmt und sie stolz Luxemburger werden oder sein lässt. Bei allem Respekt vor alten Traditionen, mag dies in einem säkularen, multikulturellen Staat leider keine religiöse Folklore wie die Echternacher Springprozession sein.

Es ist im Grunde die alte Diskussion ob es eine nationale Leitkultur braucht oder ein reiner Verfassungspatriotismus ausreichen mag. Bei allem persönlichen Patriotismus glaube ich nicht, dass eine nationale Leitkultur in Luxemburg machbar oder überhaupt wünschenswert wäre. Ich gebe zu mit Neid in die USA zu schauen, wenn dort Menschen eingebürgert werden. Deren Eid hat jedoch nichts mit einer Leitkultur zu tun (der „american way of life“ ist eine freiheitsbejahende Lebenseinstellung, das Streben nach individuellem Glück, aber keine „Leitkultur“ im eigentlichen Sinne.) Vielleicht sollte auch Luxemburg mal solche Einbürgerungspartys veranstalten. Und vielleicht sollte Luxemburgs „nation branding“ sein, dass man das Herz Europas ist (nicht nur geographisch von der Lage gesehen, aber eben auch als ein „Diversity hub“, wo Europäer verschiedenster Nationen zusammenkommen und arbeiten) und zugleich aber auch ein Land, was trotz aller Offenheit massiv Föderalismus/Nonzentralismus und somit seine eigene grösstmögliche Autonomie in Europa massiv verteidigt, ein Land, in dem man sein eigenes Leben entscheidend verbessern kann und allein schon dieser letzte Punkt doch vollkommen ausreichen sollte, dass man auch ein (per Parlamentswahlen mitbestimmendes) Staatsbürger dieser Nation sein möchte und sich somit um die dafür notwendigen Grundvoraussetzungen bemüht, inklusive Sprachkenntnis und ein gewisses Grundverständnis unserer Geschichte innerhalb der Geschichte Europas.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Werk von Fred Keup und Tom Weidig historische Veränderungen adäquat beschreibt, bei der Bewertung derselben durchaus manche Probleme und Herausforderungen unserer Zeit erkennt, sich aber bei den Lösungsvorschlägen oft zu sehr von einer nostalgischen Sehnsucht nach den (idealisierten) 80er und 90er Jahre leiten lässt und letzendlich nicht weit genug über den konservativen Tellerrand hinausschauen kann. Konservative werden das Buch jedoch lieben und eher linke Kräfte werden es verdammen wie schon seinerzeit Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“. Liberale sind hingegen gut beraten sich kontrovers mit den sachlichen Argumenten auseinanderzusetzen und sich den aktuellen und kommenden Herausforderungen unseres Landes bewusst zu sein.

März 21, 2023 - Posted by | Literatur, Luxemburg | ,

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